Geschichte von Anke

Der naechste Fall gehoert einer ganz anderen Kategorie an. Anke B. kam nicht als Patientin zu mir. Sie haette gewiss niemals einen Psychiater oder Sexualberater noetig gehabt. Dazu war sie in ihrer ganzen Persoenlichkeit zu selbstbewusst und zu sehr gefestigt. Wir begegneten einander auf einer Party bei gemeinsamen Bekannten. Die grosse Frau mit den blauen Augen, dem energischen Kinn unter einem fein geschwungenen und doch irgendwie herben Mund war mir sofort aufgefallen. Sie trug das dunkle Haar schulterlang und offen. Peter, unser Gastgeber, stellte mich vor.

„Nimm dich vor ihm in acht, Anke, er stellt oft so merkwuerdige Fragen und ist manchmal schrecklich neugierig“, sagte er dabei, hieb mir lachend auf die Schulter und verschwand.

Ich tanzte mit Anke. Wir fanden Gefallen aneinander, schon deshalb, weil wir im Tanz grossartig aufeinander abgestimmt schienen. Ich bin, weiss Gott, kein grosser Taenzer vor dem Herrn. Mit Anke ging es einfach wie von selbst. Bei einer Samba, die leider so sehr aus der Mode gekommen ist, waren wir so ineinander versunken, dass wir unsere Umgebung nicht mehr wahrnahmen. Wir erwachten erst, als mit dem Ende der Musik lautes Beifallklatschen einsetzte. Die uebrigen Paare hatten zu tanzen aufgehoert und unserer Samba wie einer Schaunummer zugeschaut.

An der Hausbar liess Anke ihren pruefenden Blick, den ich spaeter noch so gut kennenlernen sollte, eine Weile auf mir ruhen. Wir hatten, wie auf solchen Partys ueblich, nach dem zweiten Drink an der Hausbar zum freundschaftlichen Du gefunden. Ohne Zeremoniell und Bruderkuss. Wie man das heutzutage eben so haelt.

„Was hat Peter denn vorhin gemeint“, begann sie schliesslich und nippte nachdenklich an ihrem Martini, „inwiefern bist du schrecklich neugierig? Fuer einen Journalisten gebe ich doch wohl kein geeignetes Interviewobjekt ab, obwohl ich schon mal in der Zeitung gestanden habe. Damals, als ich meine Moebel-Boutique aufmachte. Journalist bist du doch wohl nicht?“

Das konnte ich mit gutem Gewissen verneinen. Sehr vorsichtig – wieso hatte ich eigentlich ploetzlich Hemmungen? – und umstaendlich setzte ich ihr auseinander, dass ich mich als Eheberater und Sexualforscher betaetige. Und meine Neugierde – nun, ja – bei sehr guten Bekannten erlaubte ich mir schon mal die Frage: ‚Wie war es bei dir, damals, beim ersten Mal?‘

„Ach so“, meinte Anke nur und zog mich vom Barhocker, weil die Musik wieder etwas Suedamerikanisches spielte.

Als wir von der Tanzflaeche zurueckkehrten, trat uns eine Frau in den Weg, die ich bis dahin ueberhaupt nicht wahrgenommen hatte. Sie war aelter als Anke, gleichfalls hochgewachsen, kuenstlich erblondet, aber sehr gepflegt. In ihrem Blick lag ein leiser Vorwurf.

„So wie heute hast du mich aber lange nicht mehr vernachlaessigt“, sagte sie. Ich merkte ihr an, dass sie eine gewisse Erregung unterdruecken musste. „Hier, ich habe dir deinen Lieblingscocktail gemixt.“

Sie hielt Anke ein hohes Glas mit gezuckertem Rand entgegen. Von mir schien sie keinerlei Notiz zu nehmen zu wollen. Also verbeugte ich mich artig und liess die beiden Damen allein. Ich konnte nicht umhin, Anke im weiteren Verlauf des Abends zu beobachten. Sie tanzte nicht mehr. Die blonde Frau wich ihr nicht von der Seite. Auf einmal waren die beiden verschwunden.

Schade, dachte ich und ging in den Wintergarten hinaus, um in Ruhe eine Zigarette zu rauchen. Hinter einer Gruppe aus Palmenkuebeln sah ich ploetzlich Ankes dunklen Haarschopf. Daneben schimmerte das helle Blond eines zweiten Frauenkopfes. Die beiden schienen in ein ernsthaftes Gespraech vertieft. Leise zog ich mich zurueck.

Peter war schon ziemlich beschwipst, als ich ihn endlich mal allein zu fassen bekam.

„So, so – die schoene Anke hat dich tief beeindruckt?“ grinste er mich auf meine Frage hin an, was es denn mit dem ploetzlichen Verschwinden meiner Taenzerin auf sich habe. „Hat dich deine Beobachtungsgabe im Stich gelassen? Bist du verliebt und deshalb blind? Die beiden, Anke und ihre sogenannte Geschaeftsfuehrerin, sind doch seit Jahren ein Paar. Jeder in unserem Bekanntenkreis weiss das. Wenn du dir Hoffnungen gemacht hast, gib sie auf, mein Lieber. Unsere schoene Schwarzhaarige ist hoffnungslos lesbisch…“

Nun, von verliebt sein konnte ich nicht gerade reden. Immerhin musste ich mir eingestehen, schon seit langem keine so faszinierende Frau gesehen zu haben wie Anke B. Lesbisch also? Nun gut – meinetwegen… Schade, eigentlich haette ich doch vorhin meine beruehmt-beruechtigte Frage gleich stellen sollen…

„So in Gedanken versunken?“ sagte eine Stimme von leicht sproedem Klang neben mir. Ich setzte mein Whiskyglas auf die Hausbar und schaute in Ankes helle Augen, die merkwuerdig staehlern funkelten.

„Um in Gedanken versunken zu sein, bin ich wohl nicht mehr nuechtern genug“, gab ich moeglichst unbefangen zurueck. „Vielleicht, um ehrlich zu sein, fehlt mir die grossartige Taenzerin, die mich vergessen laesst, dass ich eigentlich gar nicht tanzen kann.“

„Dem ist abzuhelfen“, lachte Anke und zog mich in die Diele hinaus, wo nur noch wenige Paare tanzten. Wir sprachen kein einziges Wort, bis die Musik verstummte.

„Wo hast du denn deine Freundin gelassen?“ Diese Frage konnte ich mir auf dem Rueckweg zur Hausbar einfach nicht verkneifen.

„Also doch ein neugieriger Frager“, lachte Anke. „Ganz einfach, ich habe sie heimgeschickt. Sie war muede, hatte Kopfschmerzen und macht sich sowieso wenig aus dem Trubel solcher Parties. Ich eigentlich auch nicht. Als Innenarchitektin muss ich mich hin und wieder in der sogenannten Gesellschaft sehen lassen. Das ist gut fuers Geschaeft. Natuerlich mault Gertrud jetzt – aber so weit geht die Liebe nicht, dass ich mir Vorschriften machen liesse.“

„Liebe also?“ hakte ich sofort ein.

„Ja, und zwar lesbische, wenn du es so genau wissen willst. Wir leben zusammen.“

Das war eine einfache und glasklare Feststellung, fast mit ein wenig Feindseligkeit hervorgestossen, so als muesse sich die Sprecherin gegen etwas verteidigen.

Wir nahmen uns einen neuen Drink und schwiegen vor uns hin.

„Warum fragst du mich nicht?“ begann Anke schliesslich und setzte mit hartem Knall ihr Glas ab.

„Was soll ich dich fragen? Ob du mit mir ins Bett gehen willst? Ich bin nicht ganz so dumm, wie ich vielleicht aussehe.“

„Quatsch, wer redet vom Bett!“ Anke nahm sich eine Zigarette. Ich gab ihr Feuer. Sie rauchte ein paar hastige Zuege. Ihr Blick glitt pruefend ueber mich.

„Wenn du ihm nur nicht so verdammt aehnlich sehen wuerdest – diesem Schwein“, fauchte sie mich an. Sofort legte sie beguetigend ihre Hand auf meinen Unterarm. „Entschuldige, ich bin etwas durcheinander. Als du hereinkamst, wollte ich spornstreichs zur anderen Tuer hinaus verschwinden. Dann erkannte ich meinen Irrtum. Du siehst ihm aehnlich – und wiederum nicht. Du bist maennlicher, nicht so ein weicher Lappen…“

„Du redest in Raetseln, schoenes Kind“, warf ich ein. „Und Raetsel mag ich nicht, jedenfalls nicht um zwei Uhr frueh kurz vor Aufloesung einer Party. Welchem Schwein sehe ich aehnlich?“

Sie rauchte wieder ein paar hastige Zuege und drueckte die Zigarette aus, als wolle sie etwas toeten.

„Meinem Mann siehst du aehnlich. Das ist es. Ähnlich und wiederum auch nicht. Warum fragst du mich nicht?“

„Was denn, verdammt noch mal?“

„Na, was Peter vorhin andeutete. Du bist doch Sexualforscher, nicht wahr? Du sammelst doch Faelle? Ich bin einer. Das kannst du mir glauben. Und ich waere gerade in der richtigen Stimmung, mir mal alles von der Seele zu reden. Bist du bereit zu lauschen – Herr Doktor und Seelenmasseur?“

„Natuerlich bin ich bereit zu lauschen. Aber – hier?“

Zehn Minuten spaeter sassen wir im Wagen und befanden uns auf dem Wege zu meiner Wohnung. Kurioses Maedchen, diese Anke. Sie hatte sich in die Ecke an der Wagentuer gedrueckt, als waere ihr die Naehe eines Mannes zuwider. Freilich, wenn ich ihrem Mann, dem Schwein, so aehnlich sah…

Anke gehoerte also zu den zwanzig Prozent der lesbischen Frauen, die es nach Alfred Kinseys Forschungen unter der weiblichen Bevoelkerung der Vereinigten Staaten gibt. Genauer gesagt, zu den Frauen, die irgendwann einmal in ihrem Leben lesbische Beziehungen gehabt haben. Seine Forschungen liegen um Jahrzehnte zurueck und gelten durch neuere Belege als ueberholt. Denn etwas spaeter, bei Dr. G. Hamilton, bekannten von hundert befragten Frauen genau fuenfundzwanzig, irgendwann mit Frauen sexuell verkehrt zu haben. Zu fast dem gleichen Ergebnis kam der Yankowski-Report. Er deckt sich mit den Angaben ueber das sexuelle Verhalten der deutschen Frauen, die in neuester Zeit von deutschen Forschern, zum Teil im Auftrage von Zeitschriften, ermittelt worden sind. Demnach gibt es in der Bundesrepublik Deutschland zwischen fuenfhunderttausend und achthunderttausend Frauen, die entweder ganz oder ueber wesentliche Zeitraeume ihres sexuell aktiven Lebens ihre Erfuellung beim gleichen Geschlecht gesucht und gefunden haben.

„Darf ich davon ausgehen, dass du in deiner jetzigen Lage nicht sehr gluecklich bist?“ nahm ich das Gespraech wieder auf, nachdem ich uns bei mir einen kraeftigen Kaffee gebraut hatte.

„Doch, ich bin gluecklich – jedenfalls gluecklicher als jemals zuvor“, erklaerte Anke. Sie sah zu, wie ich das Tonbandgeraet herbeiholte und in Betrieb setzte. „Gluecklich durchaus – in dem Sinne etwa, dass mir nichts fehlt, dass ich nichts vermisse. Nur manchmal habe ich das Gefuehl, dass ich noch nicht ganz frei bin von meiner Vergangenheit, der mit den Maennern, meine ich.“

„Es hat also Maenner gegeben – nicht nur den einen, dem ich so fatal aehnlich sehe?“

„Wenige – na, immerhin einige. Ich war nicht von Beginn an eine Lesbierin. Im Gegenteil, wer mir vor zehn, fuenfzehn Jahren vorausgesagt haette, dass ich einmal so herum werden wuerde, dem haette ich ins Gesicht gelacht. O nein, ich glaube mir schmeicheln zu duerfen, dass ich eine vorzuegliche Ehefrau und Geliebte gewesen bin. Aber die Maenner – pfui Teufel! Willst du nun meine Geschichte hoeren oder nicht?“

Ich nickte. Anke holte tief Luft – und hielt inne. Das Telefon schrillte. Mit einer gemurmelten Entschuldigung ging ich an den Apparat und meldete mich.